Ein Irrgarten der Momente — Ein Interview mit Shaun LA

Die Fotografie erlaubt, wie andere Kunstformen auch, eine Vielzahl an Interpretationen. Das Verständnis jedes Künstlers für sein Medium unterscheidet sich von dem eines jeden anderen und macht es so zu einem sehr persönlichen Handwerk. Keine zwei Fotos sind exakt gleich und dies gilt ebenso für ihre Fotografen. Wir hatten das Glück, uns mit dem Street-Fotografen Shaun LA über seine Beziehung zur Fotografie unterhalten zu können.

Hallo, Shaun! Willkommen in unserem Magazin. Was machst du so und wie bist du zur Filmfotografie gekommen?

Ich bin ein Fotograf und fotografiere sowohl auf den Straßen als auch im Studio. Vor etwas mehr als 20 Jahren habe ich mir eine Einwegkamera gekauft, die mich zur Fotografie gebracht hat. In Sachen Fotografie bin ich Autodidakt. Vieles von meinem Wissen über dieses Medium verdanke ich dem Wunsch, zu lernen. Man könnte dies auch als völlige Hingabe verstehen. Ich bin jetzt 40 Jahre alt und habe immer noch den Ehrgeiz, neue Dinge über Film zu lernen.

Wie würdest du die Fotografie beschreiben? Was magst du am meisten daran?

Die Fotografie ist ein Medium, das noch reift. Persönlich glaube ich, dass es in dem Medium noch Wachstumsschmerz gibt, weil es die Fotografie eben noch nicht so lange gibt. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist älter als die Fotografie. Meiner Meinung nach ist die Fotografie aber ihrem Alter gemäß wunderbar positioniert. Ich würde sagen, dass ich am Fotografieren am meisten mag, wenn ich einen Film in meine Kamera setze und dabei ein potentieller Beobachter des fotografierbaren Lebens bin. Selbst in einer Studio-Session, in der das fotografierte Individuum weiß, dass man da ist, um ein Foto zu machen, hat es für mich eine geheimnisvolle Faszination – meine Augen, das Auge der Kamera, sowie der Prozess, der offenbaren wird, was bei der Aufnahme gesehen wurde, wenn er entwickelt und verarbeitet wird. Für mich ist es ein Medium, das spontane Augenblicke nutzt, um einen Moment zu gestalten, aber ohne dabei vorhersehbar zu sein. Ich persönlich nenne diesen ganzen Prozess, einen Irrgarten der Momente. Ich liebe es, durch diesen Irrgarten zu gehen.

Was inspiriert dich zum Fotografieren?

Das ist eine sehr bedeutende Frage, danke, dass du mich das fragst. Die Kamera in die Hand zu nehmen, etwas zu sehen oder die visuelle Atmosphäre zu spüren – das ist meine Hauptinspiration. Auch hier erkennt man, dass die Fotografie ein Medium ist, das nicht viel Geschichte hinter sich hat; deshalb kann ich mich nicht wirklich von anderen Medien inspirieren lassen, wenn es darum geht, eine Person, einen Ort oder eine Sache zu fotografieren. Das ist aber vor allem auch deshalb so, weil ich nur die Fotografie praktiziere. Wenn es um meine Inspiration geht, kann ich nur darauf reagieren, ein Filmfotograf zu sein, da ich weiß, dass auch das nächste Foto ein weiter Beitrag zu meiner Erfahrungen sein wird, den ich in mein kontinuierliches Bedürfnis, etwas über die Fotografie zu lernen, einfließen lassen werde.

Doch im Allgemeinen inspiriert mich das Leben. Die Fotografie hat in meinem Leben sehr viel Platz, aber ich bin kein Fotograf, der möchte, dass seine Fotos wie ein Gemälde aussehen oder eine musikalische oder literarische Botschaft in sich tragen. Ich liebe die Kunst, aber als Zuschauer – wenn ich mir andere Medien ansehe, denke ich nicht daran, wie es als Foto wiederverwertet werden könnte.

Was möchtest du den Betrachtern deiner Bilder mitteilen?

Emotionen. Ich sehe meine Fotografie auf eine Weise, die mich als Insider anspricht, aber ich möchte dennoch, dass meine Fotografien zu einer emotionalen Reaktionen einladen; zu Gedanken und der ungeteiltenp Aufmerksamkeit eines Außenstehenden, der hineinschaut. Ich verstehe, dass dies ein kühner kommunikativer Wunsch ist, den ich begehre, weil Fotografie in jedem Grad ihrer Existenz einen sofortigen Aspekt inne hat, weil man sie natürlich mit der Zeit vergleicht, die man braucht, um zu malen oder zu zeichnen.

Es ist wohl eine Untertreibung, die Street-Fotografie als herausfordernd zu bezeichnen. Wie gehst du mit mit der Hektik des Genres um?

Ich bin in der Innenstadt von Baltimore aufgewachsen, einer Stadt, die sehr hektisch ist. Es war das Baltimore der 1990er Jahre, um genau zu sein. New York City ist wie fünf Baltimores auf einmal. Die Straßen erinnern mich an meine Kindheit. Das Heranwachsen in solchen Innenstädten kann dazu führen, dass man das Leben aus einer Perspektive sieht, die rastloser und weniger reif ist als normal. In einer Innenstadt aufgewachsen zu sein, halte ich für den Ursprung des energischen Teils von mir, der meine Sinne schärft und es mir erlaubt, die Straßen zu hören, zu sehen, zu berühren, zu schmecken und zu riechen. Außerdem habe ich einen Ausgleich - wenn ich im Studio fotografiere oder wenn ich gebucht werde, um ein Event zu fotografieren, verlangsamt sich mein Tempo. Mein Equipment genau zu kennen, hilft mir ebenfalls, Schritt zu halten. Dennoch ist die Street-Fotografie sehr zeitaufwendig, weil man nichts verpassen will. Man muss jedoch auch erkennen, dass jeder Tag neue Möglichkeiten bietet. Es geht insgesamt um Balance und Energie.

Was magst du an diesen Aufnahme von Szenen aus dem echten Leben am liebsten?

Den Moment! Hin und wieder kommt es vor, dass ich nicht die Möglichkeit habe zu verstehen, was ich fotografiert habe, bis ich die Filmrollen entwickle und verarbeite. Es gibt diesen Schock der Wertschätzung und jedes Mal überdenke ich die Situation erneut, wenn ich erkenne, was ich fotografiert habe, oder mir alte Aufnahmen erneut ansehe – manche Aufnahmen hat man vorher einfach übersehen. Das erneute Betrachten bremst mich etwas und zeigt mir, was ich verpasst habe.

Was macht ein Bild deiner Meinung nach wert, es genauer zu betrachten?

Zunächst das Leben dessen, was fotografiert wurde, dann die Bildgestaltung, gefolgt von der technischen Umsetzung. Ich finde, dass die Fotografie im Grunde ein Medium ist, das technisch sehr einfach ist. Doch natürlich erinnern uns hochtechnische, clevere Erfindungen immer wieder daran, dass solche Gadgets in der Fotografie beliebter sind als die Grundlagen, die mit den individuellen Fähigkeiten des Fotografen erreichbar sind.

Welche Elemente braucht eine Szenerie, bevor du den Auslöser drückst?

Es ist ein gewisses Gefühl. Ich würde nicht sagen, dass es schwer zu beschreiben ist. Aber ich fühle es – eine Sensibilität oder ein Orientierungssinn, den ich einfach habe; all dies geschieht ohne vorsätzliches Denken. Zumindest ist das bei mir so – es ist ein Reflex, eine Reaktion. Im Studio bin ich etwas geduldiger als auf der Straße, aber mein Foto-Instinkt ist immer in Bereitschaft. Selbst wenn ich keine Kamera dabei habe, nehme ich die Dinge genauso wahr.

Wer sind deine Lieblingskünstler/Fotografen und warum?

Ich habe keinen. Ja, ich weiß, dass das klingt wie eine vorschnelle Antwort.
Dennoch habe ich Lieblingsgruppen in der Fotografie, auch wenn man das Wort Gruppe mal mehr und mal weniger genau nehmen muss. Die Group f/64, die Photo League, Les Groupe des XV und die FSA. Die Fotografie entzieht sich der Einordnungen, die wir in Gemälden sehen, in Musik hören oder in der Literatur lesen. Und obwohl ein Fotograf normalerweise auf einer Solo-Mission ist, finde ich die Philosophie in der Fotografen ihre eigene Sicht der Dinge, aber Vereinbarungen und Dispute miteinander haben und ihre visuelle Doktrinen verteidigen zunehmend faszinierend.

Wenn du mit nur einer Kamera und einem Film fotografieren könntest, welche wären das?

Eine weitere Frage, die zum Nachdenken anregend, das mag ich. Meine Antwort auf diese Art von Frage könnte sich jederzeit ändern, doch im Moment würde ich die Pentax 67 wählen. Laden würde ich sie mit einer 120er Rolle Ilford Delta 100. Das lustige an dieser Art von Fragen ist, dass sie einen überlegen lässt, ob man sich in den 1950ern wohl für eine Kodak Medalist und eine Rolle Kodak Super XX entschieden hätte, wenn man in diese Epoche zurückgehen könnte. Das war lange vor meiner Zeit, aber ich hörte Geschichten von Fotografen, die älter sind als ich und mir ihre Erfahrungen mit dem Film schilderten. Deshalb blieb er mir im Gedächtnis.

Was steht für Shaun LA als nächstes an? Bitte erzähl unseren Lesern davon.

Ich arbeite an einem Essay-Sammlung über Fotografie, das ist ein laufendes Projekt. Mein Buch führt in die Tiefen und Randgebiete des Intellektualismus, der mit der Fotografie einhergeht, diese Art von Denken hat das Medium so an sich. Außerdem plane ich eine Ausstellung meiner Fotografien. Ich habe seit ungefähr sieben Jahren keine Ausstellung mehr gemacht, das ist so mein Tempo, weil es mir die Möglichkeit gibt, meine Fortschritte deutlich zu sehen. Abgesehen davon fotografiere ich Porträts, bezahlte Shootings, Events, im Studio und auf der Straße.

Gibt es zu guter Letzt etwas, das du anderen begeisterten Film-Fotografen gerne sagen würdest?

Liebt die Fotografie. Dieses Medium braucht all die Wertschätzung, die sie von Fotografen, Enthusiasten, Sammlern, Kuratoren, Lehrern, Debattierern und Autoren bekommen kann. Wenn ihr ein Film-Fotografen seid, unterstützt auch weiterhin eure Lieblingshersteller und Marken, besucht Websites wie Lomography, Film Shooters Collective und Emulsive, die sich der Filmfotografie widmen.

Und falls du ein neuer Fotograf bist, lass dich nicht von dem Irrglauben überzeugen, dass viele Likes, eine große Fan-Gemeinde oder viraler Erfolg die Definitionen guter oder gar großartiger Fotografie sind. Ja, die Aufmerksamkeit, die mit dem viralen Erfolg, einer großen Anzahl von Likes und Shares einhergeht, ist eine große Motivation, aber dieses Medium ist so viel mehr als das. Wenn du das Glück hast, dich erfolgreich zu vermarkten, ist das großartig – mach weiter so. Aber denke auch daran, dass die bescheidenden Wurzeln dieses Medium auf Nicéphore Niépce zurückgehen, der im Frankreich der 1820er Jahre Stunden warten musste, bis auf seinen Materialien ein latentes Bild erschien. Diese Art von Demut und Geduld sollte uns alle daran erinnern, dass wir vor allem dann ein erfolgreicher Teil der Fotografie sind, wenn wir produktiv sind.


Wir danken Shaun, dass er uns seine Bilder im Magazin zur Verfügung stellt. Wenn du dich für seiner Arbeiten interessierst, besuche seine Website, um noch mehr zu sehen.

geschrieben von cheeo am 2018-10-16 in #Kultur #Menschen
übersetzt von dopa

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