Chris Fletcher: Ein zweites Leben für verstaubte Erinnerungen
1 7 Share TweetHast du dir schon jemals Gedanken darüber gemacht, welche Geschichte und Vergangenheit sich hinter deinen Secondhand-Funden, sei es ein seltenes Designerstück im Trödelladen oder ein paar alte CDs, verbergen? Oberflächlich betrachtet erfüllen diese Dinge für uns vorrangig einen Zweck, es kann aber interessant, hinter die Fassade zu blicken und vielleicht so auf eine spannende Geschichte zu stoßen. Lomograph Chris Flechter (@cjf) entdeckte in einem Trödelladen einen Stapel Dias, scannte sie und teilte sie in seinem LomoHome.
Die Bilder offenbarten nicht nur ein umfassendes, fotografisches Wissen seitens des Fotografen, sondern auch eine starke, emotionale Qualität. Als wir uns bei ihm nach der Herkunft dieser Bilder erkundigten, erzählte er uns, dass er gerade auf der Suche nach dem mysteriösen Schöpfer sei. Laufend versorgte er uns mit Updates, während er des Rätsels Lösung Stück für Stück näher kam. Heute erzählt uns Chris die ganze Geschichte und lüftet das Geheimnis, um den bis dato unbekannten Fotografen dahinter.
Hi Chris, kannst du dich unserer Community vorstellen und erzählen wie du zur analogen Fotografie gekommen bist?
Ich fotografiere auf Film seit meiner Schulzeit in den späten 70ern. Damals hatte ich eine Kodak 110 Tele-Ektra. Das Fotografieren spendete mir Trost, während ich in einem schrecklichen Internat meine Zeit fristen musste. Wie viele andere auch, habe ich später aus Bequemlichkeit begonnen digital zu fotografieren. Aber wie viele unserer Digitalfotos haben wirklich überlebt? Mit der Wiederentdeckung und anschließendem Scannen meiner Negative und Dias wuchs auch mein Interesse an der Lomographie. Mit einem neuen Ansatz widmete ich mich dann wieder meinen Analogkameras.
Kannst du uns erzählen, wie du diese Fotos entdeckt hast?
In einem Trödelladen bin ich über sie gestolpert. Zu der Zeit hatte ich keine eigenen Negative zu scannen und sah, dass sie auf die Jahre 1959 und 1960 datiert waren. Den geringen Preis waren sie wert, dachte ich mir, und kaufte sie.
Was war dein erster Eindruck als du die Dias gescannt hast?
Nachdem dem Säubern ging es ans Scannen und es war großartig. Hier war ein Fotograf, der wahrlich das Leben und Abenteuer liebte, dachte ich mir. Es waren keine dokumentarischen Bilder, die eine Liste an Sehenswürdigkeiten abhakten. Sie waren von Freude und Feingefühl geprägt. Ein Gefühl des Staunens, das durch den Sucher bis ins Herz durchdrang. Technisch und kompositorisch waren sie exzellent, aber es war das Gefühl des Entdeckens und Staunens, das hervorstach.

Wie konntest du den Fotografen ausfindig machen?
Nur auf zwei der rund 150 Dias konnte eine Anmerkung gefunden werden, die mehr über die Identität dieser zwei jungen Männer preisgab. Das Schlüsselbild waren die zwei Männer vor einem Lagerfeuer. Durch den Namen am Diarahmen konnte ich einen davon identifizieren. Er ist heute 91 Jahre alt und ein gefeierter Architekt. Und zu allem Glück fand ich heraus, dass er ganz in der Nähe wohnte. Der andere junge Mann musste der Fotograf selbst sein, da er "Ich" am Rahmen des Dias vermerkte. Das bestätigte mir auch der Architekt als ich ihn besuchte und er gab mir dessen Namen. Sie sind bis zum heutigen Tag enge Freunde geblieben und der Fotograf hat ihn sogar dabei geholfen, eines seiner gepriesenen Häuser zu bauen und sie wurden Nachbarn. Das Bild am Lagerfeuer hat vermutlich ein Freund gemacht oder sie haben einen Selbstauslöser benützt.
Ich habe den Fotografen seitdem zweimal besucht. Mit 16 Jahren verließ er die Schule, um Zeitungsreporter zu werden. Danach wurde er nach Deutschland geschickt und musste dort seinen Dienst in der britischen Armee leisten. Er entwickelte eine Liebe für die Literatur (und für ein deutsches Mädchen, das seine Leidenschaften beflügelte). In seinem kleinen Renault Dauphin reiste er quer durch Europa und versuchte so viel zu sehen, wie er nur konnte. In diesen bescheidenen Verhältnissen angefangen, stieg er später zu einem hochgeschätzten Professor für Literatur auf. Er erzählte mir, dass die beiden am dem Bild vom Lagerfeuer Wordsworths bekanntes Gedicht 'Above Tintern Abbey' rezierten. Er ist ein wunderbarer Mensch und ich bin sehr gerührt davon, dass die Poesie seiner Bilder ein Leben vorzeichnete, das er sich mit dem gleichen Interesse an Schönheit, Leben und Lyrik widmete wie seine frühen Werke zeigen.
Durch einen Umzug in ein kleineres Haus hatte er seine Dias aussortiert. Ich gab ihn Kopien von allen und scanne nun weitere für ihn, die ich aber nicht posten werde. Als ich die Identität dieser Männer herausfand, stellte ich mir die Frage, ob ich die Erinnerungen da lassen soll, wo sie sind - in einer süßen, verlorenen Welt. Letztendlich bin ich aber froh darüber, dass ich sie kontaktiert habe und so erkannte, dass das lebendige Potential ihrer Bilder, sich in ihren eigenen Leben erfüllt hatte.
Ich denke, eines meiner Lieblingsbilder ist das von ihm und seinem Auto. Er sieht stolz aus und bereit, neue Abenteuer in Angriff zu nehmen. Großartig ist auch das Foto der Skifahrer hinsichtlich Komposition und Darstellung von Bewegung. Auch wenn er mir enttäuscht erzählte, dass ihm die Pisten zu voll zum Skifahren waren.
Was denkst du über diese Bilder?
Ich wünsche mir, ich hätte sie aufgenommen. Wie viele von uns, neige ich mit zunehmenden Alter und Verantwortungen dazu, in meiner näheren Umgebung zu fotografieren. Die gleichen Bäume, die gleichen Häuser - vielleicht in einem anderen Licht und mit anderen Filmen und Kameras. Das ist so in Ordnung. Aber hier war jemand, der sich seiner großen Faszination für Orte und Menschen hingab und jedes Wochenende große Distanzen mit seinem kleinen Auto zurücklegte. Er war Mitte zwanzig und entschlossen, seine Seele und Filme mit Erfahrungen zu tränken. Heute sind sie zur Erinnerung für ihn geworden, aber wir können die Freude des Moments von damals mitfühlen. Er fotografiert immer noch, wenn auch digital, und seine Bilder sind immer noch besser als meine!
Mit Blick auf diese Fotos, wo finden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen seinem und deinem Stil?
Nun, ich denke, die meisten seiner Bilder sind so wie meine Landschaftsaufnahmen. Aber wenn er Menschen fotografiert, trifft er den Nagel auf dem Kopf. Die Liebenden an der Seine in Paris; die griechische Familie samt Osterlamm; das Selbstporträt eines jungen, schönen Mannes und seinem Renault Dauphine, der ihn an mehr aufregende Plätze und zukünftige Momente begleiten wird. Ich wünschte, ich könnte dieses Gespür für Menschlichkeit ein wenig mehr in meine Fotos einfließen lassen. Ich denke, ihm würden einige meiner Fotos vom Meer und Lake District Nationalpark gut gefallen. Ich muss sie ihm zeigen, wenn wir uns das nächste Mal treffen.
Wenn du in den 50er und 60er an seiner Stelle gewesen wärst, wohin wärst du gereist und was hättest du gerne fotografiert?
Wäre ich 1959 und 1960 an seiner Stelle gewesen, wäre ich gerne an dieselben Plätze gefahren - Frankreich, Schweiz, Deutschland und Griechenland. Ich hätte wahrscheinlich versucht, ein paar Städte mehr zu besuchen, speziell Berlin wäre interessant gewesen. Er reiste zu einer Zeit, als der Kontinent noch immer versuchte, sich vom Schatten des Krieges zu befreien. Berührend ist auch zu sehen, wie er stationierter Soldat an einigen Plätzen, die zuvor als Kriegsschauplatz herhalten mussten, Schönheit finden konnte.
Zu guter Letzt: Gibt es etwas, dass du mit dem Rest der Community teilen möchtest?
Ich möchte all mein Freunden danken, die ich auf diesem Abenteuer kennenlernen durfte. Es hat mich tief berührt zu sehen, wie viel Interesse und Gleichgesinnte es gibt, die Freude und Faszination in der Tiefe der Erinnerung finden - kürzlich oder lange zurückliegend, gelebt oder gefunden - die dieses nachhaltige und eindrückliche Medium bietet.
geschrieben von rocket_fries0036 am 2023-09-11 in #Kultur #Menschen #Orte
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