Kapitel 3: Das Lomographische Manifest

An einem Sonntag Nachmittag verfasste ein Lomograph das „Lomographische Manifest“. Inspiriert wurde es durch die ersten 12 Monate der Lomographie, die mit allen möglichen Abenteuern, Diskussionen und Überlegungen der eifrigen jungen Österreicher erfüllt waren, die diese einzigartige Kamera bei einer Reise ins Heimatland der LC-A „entdeckten“.

Dieser Artikel war der erste, der je über Lomographie in einer Zeitung veröffentlicht wurde.

Wie das Lomographische Manifest und die 10 goldenen Regeln entstanden
Das Lomographische Manifest und die 10 goldenen Regeln wurden inspiriert durch die ersten 12 Monate der Lomographie und die dazugehörigen Abenteuer, Diskussionen und Überlegungen, die die jungen Österreicher in ihren Bann zogen. Ein Lomograph verfasste das „Lomographische Manifest“ an einem Sonntag Nachmittag, und gab das Schriftstück einem Anderen zu seinem 25. Geburtstag. Ein paar Tage später stellten sie die 10 goldenen Regeln der Lomographie auf, und damit war alles erledigt. Die „Lomographische Gesellschaft“ war geboren! Kurz vor der ersten Lomographie-Austellung im November 1992 fragte die „Wiener Zeitung“, was denn Lomographie überhaupt sei – die Lomographen faxten der Zeitung einfach das Manifest, welches am 5. November 1992 Wort für Wort abgedruckt erschien.

Das Lomographische Manifest
Lomographie ist keine schlaue Idee, die von einem Marketing-Strategen, Erfinder oder Künstler ausgedacht wurde. Lomographie entstand als Konsequenz eines zufälligen Zusammentreffens der technischen, ökonomischen, sozialen und künstlerischen Bedingungen und musste als solche entwickelt werden. Der Name „Lomographie“ leitet sich von einem Kamerahersteller aus St. Petersburg ab (LOMO = Leningradskoye Optiko Mechanichesckoye Obyedinenie), der der Welt eine revolutionäre Kamera geschenkt hat. Sie ist extrem nutzerfreundlich (Abmessungen: 10×6×4 cm, ähnlich wie eine MINOX), hat eine automatische Belichtungsmessung, ein besonderes Weitwinkelobjektiv (32mm, eingebaute extern verschliessbare Abdeckung, exzellente Schärfe und hohe Schärfentiefe). Und zu guter Letzt erlaubt die Kamera durch ihren wirklich außergewöhnlich niedrigen Preis eine neue Herangehensweise an den technischen Apekt der Fotografie, nämlich Lomographie.

Vom geschäftlichen Standpunkt aus gesehen, haben verschiedene Supermarkt-Ketten den Weg für die Lomographie geebnet. So war es möglich für etwa 100 Schilling „bis zu 38 Fotos auf Papier“ zu bringen (Film, Entwicklung und 38 Abzüge im Format 7×10 cm), während frühere Generationen dafür 400 Schilling ausgeben mussten. Dieser Rückgang der Preise zusammen mit der dazugehörigen Steigerung der Nachfrage nach Fotografie kann als Anzeichen des kreativen und künstlerischen Potentials gewertet werden, dass in modernen Menschen schlummert, die in Supermärkten einkaufen.

Dennoch waren es die sozialen und künstlerischen Vorraussetzungen der 1990er, die die Lomographie ins Leben riefen und sie zu dem machten, was sie heute ist. Elitäre und in vieler Hinsicht überhebliche kulturelle Instititionen (Theater, Museen, Galerien) kämpfen entweder ums Überleben oder müssen vom Staat subventioniert werden.
Im Gegensatz dazu bilden sich immer mehr spontane, kreative und künstlerische Ausdrucksformen, die vor Kontakten mit dem „privaten Sektor“ (Sponsoren, gebührenpflichtige Gesellschaften, private Ausstellungen, Bands, Werbung, Film, Soundtracks) nicht zurückschrecken oder sogar daraus entstehen. Darüber hinaus wird Gestaltung und Kunst mehr und mehr als neutrales Ausdrucksmittel verstanden. In vielen Fällen geht die Kreativität über die Grenzen der kommerziellen Interessen des Künstlers hinaus (Fotografie, Videos etc.) – und widersetzt sich damit der Staatshoheit und ihren oft mittelalterlich anmutenden Regeln (Gewerbeordnung, Medienrecht), zum Beispiel mit Piratensendern, Graffitis und illegalen Plakaten.

Heutzutage werden Trends in der Kunst nicht an ihren Inhalten erkannt. Nach heutigen Meinungsumfragen bewegen wir uns schneller und schneller hin zu einer experimentellen Phase des sozialen Pluralismus, während die Zeiten der dogmatischen Rigidität aussterben. Direktheit, Mut und Schnelligkeit, mit denen verschiedene Standpunkte und widersprüchliche Inhalte oft auch zur gleichen Zeit vermittelt werden (Selbstkritik – eine ironische Herangehensweise in der Philosophie), können als Zeitgeit unserer Ära gewertet werden – ein Trend.

Lomographie ist eine schnelle, unmittelbare und schamlose Form des künstlerischen Ausdrucks. Die geschäftlichen Voraussetzungen ermöglichen Lomographen eine weitgehende Unabhängigkeit von ökonomischen Beschränkungen. Die Materialkosten (Kameras, Filme etc.) sind auf ein Minimum reduziert, wodurch finanzielle Beschränkungen, erzwungene Zurückhaltung und Disziplin beim Fotografieren keine Rolle mehr spielen. Das „extravagante Experiment“ findet seinen Weg in die Massenfotografie.

Es ist in erster Linie die Technik, die der LOMO LC-A, die ihr wahre Identität gibt. Sie passt in jede Hosentasche, hat ein Weitwinkelobjektiv und ist leicht zu bedienen (schnelle Fokussierung, alles andere ist automatisch). Lästige Vorbereitungen und besonders auch der Blick durch den Sucher (dank des Weitwinkelobjektivs) sind daher nicht mehr nötig. Durch den „Schuss aus der Hüfte“ wird das lebendige Motiv nicht überrascht oder beeinflusst. Und verglichen mit einer klassischen (künstlerischen) Foto-Ausrüstung ist sie unvergleichlich unbefangen. Die Essenz der Lomographischen Methodik liegt in der kurzen Zeit zwischen Entdeckung und Ablichtung des Motivs.

Dadurch werden die Verlegenheit des Fotografieren und die „Privatsphäre“ aufgehoben – ein erklärter Wunsch der Lomographie.

Dies betrifft auch besonders „schlechte Lichtverhältnisse“, die kein Problem für die LOMO LC-A darstellen. Wenig Licht und die entsprechende Belichtungszeit (ohne Blitz), das Weitwinkelobjektiv (und auch das kleine Bildformat) schützen vor Unschärfe durch Verwackeln. Dies ermöglicht uns, unser Leben lückenlos zu veröffentlichen. Langzeitbelichtungen, Bewegungsunschärfe und das weiche, gelb-rote Licht künstlicher Beleuchtung bei Nachtfotografien bringen die Authentizität zrück, die in der klassischen Fotografie dem Blitz zum Opfer gefallen ist.

Wir nähern uns langsam dem Kern der Lomographie. Grafische und konzeptionelle Themen treten in den Hintergrund. Fotografie wird nicht erdacht, sondern entwickelt sich zum Dokument und gleichzeitig zum integralen Bestandteil einer Situation. Es gibt keine „guten“ und „schlechten“ Fotos, nur mehr oder weniger „wahre“ und „authentische“ Fotos. Diese Authentizität wird durch fast mechanische, routinierte und „gedankenlose“ Schnappschüsse erzielt. Wichtig für Lomographen ist, dass die paradoxe Rolle des smarten Voyeurs plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens festgehalten werden kann.

„Trash“ als Kunst, der Wunsch nach Veröffentlichung, die Freude am Konsum in vermeintlichen Massen (jedes Motiv ist würdig, lomographiert zu werden), die Zerstörung der traditionellen Praktiken (Ernsthaftigkeit der Kunst, Privatsphäre, klassische Ästhetik der Fotografie etc.) sind das Salz der Lomographie, Supermärkte sind die Butter und die LOMO LC-A ist das Brot.

Kommerz und Technologie haben daher den Grundstein für Lomographie als zeitgenössische Art des fotografischen Ausdrucks gelegt. Die soziale Entwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts (progressiver Liberalismus und Pluralismus) verwischt die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Kunst, Konsum und Kommerz, zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen. Auf diesen Grenzen siedelt sich die Lomographie an. Um einen Spaziergang über diese Grenzen hinweg zu geniessen, werden der Lomograph und seine LOMO LC-A in jeder Lebenslage zum glücklichen Paar.

geschrieben von cruzron am 2011-01-17 in #history #lc-a #library #lomography #bibliothek #manifesto #lomobooks

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